Text von Ute Haesner für die Musiktherapeutische Umschau – Forschung und Praxis der Musiktherapie, Vandenhoeck & Ruprecht, 3/2012
In diesem Beitrag geht es um eine Begebenheit im Rahmen einer Einzelmusiktherapie in einem Berliner Seniorenzentrum.
Die Ausgangssituation: Herr Schubert (Name geändert, d. Red.) bewohnte ein Zweibettzimmer mit einem anderen Herrn, mit dem ich bereits einzelmusiktherapeutisch arbeitete. Herr Schubert trug tagsüber Filzlatschen und Socken, eine Pyjamahose, ein Oberhemd mit Krawatte, und er hatte immer seine Aktentasche dabei. Manchmal zog er noch ein Sakko über. So lief er mehrmals täglich den Gang auf und ab.
In meinen Begegnungen mit Herrn Schubert erlebte ich ihn ablehnend, dominant, aber in meiner gemeinsamen Arbeit mit seinem Mitbewohner ruhig lauschend und auch teilweise berührt. Herr Schubert bekam kaum Besuch. Mit seiner derben und dominanten Art machte er es seinen Kindern schwer, mit ihm in gutem Kontakt zu sein. Sie beauftragten mich mit der Einzelmusiktherapie.
Ich hatte großen Respekt vor dieser Herausforderung. Lange und immer wieder überlegte ich zu Hause, wie ich einen Zugang zu Herrn Schubert bekommen könnte. Wo ist der Ansatz für die Arbeit mit ihm? Mich beschlich bereits in dieser Phase des Suchens eines Handlungsansatzes ein merkwürdiges, bedrückendes Gefühl, so dass ich mich mit meinen Überlegungen und Gedanken nicht nach außen wandte. Im Nachhinein kann ich nicht mehr genau beschreiben, warum mich so schnell der Gedanke an ein mögliches Täterverhalten beschlich.
Es kamen Erinnerungen an meinen Großvater. Er hat mir oft aus seinem Leben erzählt. Welche Erzählungen häuften sich zum Ende seines Lebens, auf dem Sterbebett? Auch war mir seine Musik, welche er immer wieder hörte oder sang, sofort wieder gewahr.
Die Gedanken sprangen immer wieder hin und her. Mein Großvater, Herr Schubert. Männer einer betrogenen Generation. Welchen Part muss ich übernehmen, den ich vielleicht nicht leisten kann? Würde ich das Handeln der Männer überhaupt verstehen können?
Ich weiß noch sehr genau, dass es mir nicht gut ging. Ich fühlte mich klein vor diesem Mann und unzureichend. Was war es, was mich bewegte, bedrückte? Als erstes Beklommenheit, dass eine ähnliche Geschichte in einer anderen Person noch einmal gegenständlich würde. Angst, dem nicht gewachsen zu sein, was da auf mich zukommt. Dass meine Arbeit politische Facetten annahm, was ich eigentlich nicht wollte. Schämte ich mich in den Erinnerungen auch wegen der eigenen Familiengeschichte, welche wieder präsent wurde? Die Gemeinschaft ist groß, viele andere hatten Kontakt mit Herrn Schubert. Wollte er mich als „Beichtfrau“? Wollte ich diese Last auf mich nehmen und wo sollte ich dann hin damit? Sicher erwartete er Verschwiegenheit. Warum haben so viele Andere es nicht gesehen? Andererseits ging mir auch der Gedanke durch den Kopf, dass es vielleicht nicht fair ist, ihm so viel Zeit zu widmen, wo er möglicherweise anderen Lebenszeit genommen hat. Hat er keine Scham, mir davon zu erzählen? Das müsste ihm doch schwer fallen. Oder benutzt er mich wissentlich, hat er mich ausgesucht? Ich hätte seine Enkeltochter sein können. Ich merkte schnell, dass er sich mir gegenüber anständiger benahm als gegenüber dem weiblichen Pflegepersonal.
In mir kam Scham auf. Wie kann man so lange mit einer solchen Geschichte, solch einem (möglichen) Verbrechen leben? Aber warum sollte ich die Scham stellvertretend für ihn und die anderen um ihn herum nun austragen? Aber einer musste es nun machen, damit Herr Schubert an seinem Lebensende auch die Möglichkeit des Rückblicks hat und eine Chance loszulassen. Ich war für seine Geschichte, seine Scham die wohl für ihn einzig mögliche Adresse in seiner Situation.
Ich ging mit CD-Player und Marschmusik zu Herrn Schubert, begrüßte ihn und sagte, dass wir gemeinsam Musik hören können. Dann könnten wir ja immer noch erzählen. Er lauschte und ich sah ihm an, dass seine Augen ganz wach wurden und es in seinem Kopf arbeitete. Nach ca. 20 Minuten fragte er mich, wie ich als Frau in meinem Alter auf diese Musik komme. Es sei doch Musik aus seiner Zeit, die ein Teil seines Lebens geprägt habe. Mir schwante, dass meine Überlegungen zu dem möglichen Anliegen und damit Gegenstand der gemeinsamen Arbeit um das entsprechende Thema kreisen würden. Aus anderen Begegnungen kannte ich die Geschichten der vergewaltigten Frauen, genau wie die eines Kommunisten, der mehrere Jahre Konzentrationslager überlebte. Mit der (klaren) Opferseite konnte ich mich identifizieren. Aber nun half ich einem Täter aus dieser Zeit unserer deutschen Geschichte (und es sollte nicht das letzte Mal sein).
Mir wurde wieder sehr deutlich bewusst, mit welchen moralischen und emotionalen Belastungen viele der heutigen Heimbewohner leben, ohne mit jemandem gesprochen zu haben. Peinlichkeit und Angst, Scham und Feigheit das sind sicher Aspekte der oft nicht erfolgten Auseinandersetzung im Sinne von Zuhören, sich interessieren für den Menschen, aber auch einer Vergangenheitsbewältigung im Sinne von Wahrheit und Reue.
Herr Schubert erzählte erst Mal nichts Schlimmes. Eher etwas von dem kameradschaftlichen Erleben. Ich fragte, ob er besondere Wünsche hätte und er äußerte diese. Er benannte mir klar die Musikstücke, zumeist Märsche, die als Bemäntelung oder Verschönerung genutzt wurden im Militär. Nach einer Zeit erzählte er von seinen Erlebnissen im Warschauer Ghetto als NS-Soldat. Mir kamen dazu Bilder von Reportagen und Filmen. Ich erschrak oder staunte, wie klar und sicher ich das alles aufnahm. Ich hatte eine gute Distanz geschaffen. Es durfte und sollte mir auch nicht so nah gehen, da er ja nicht mein Großvater war. Da wollte ich einen Unterschied spüren können. Was ich noch gut erinnere, ist die Tatsache, dass ich nach diesen Tagen mit sehr widersprüchlichen Gefühlen das Seniorenzentrum verließ, ich war teils bedrückt, dabei aber auch sehr aufrecht.
Ich hatte keine Scham mehr. Auch Herr Schubert schien diese nicht zu haben. Es war ein offenes Miteinander. Er erzählte und ich hörte zu, ohne zu werten und emotional zu reagieren. Ich habe mich durch diese Begegnungen verändert, bin reifer, kompetenter geworden für diese noch aktuellen Themen in Senioreneinrichtungen. Ich brauchte ab diesem Zeitpunkt, dieser Begebenheit, diesen Dingen nicht mehr peinlich gegenüber zu stehen, mich nicht für meine und die gesellschaftliche Aufarbeitung der unrühmlichen Geschichte zu schämen.
Nach ca. vier Monaten sagte Herr Schubert, es reiche nun, ich bräuchte nicht mehr zu kommen. Er grüßte mich in der Folgezeit freundlich und respektvoll, wenn wir uns sahen. Wenige Wochen später ist er eingeschlafen. Das hat mich ein wenig zufrieden, glücklich gemacht. Es hat mich gestärkt und ich kann sagen, dass ich stolz war, Herrn Schubert geholfen zu haben, seine Erlebnisse mitteilen und loslassen zu können, um vielleicht friedlich – das weiß ich nicht -, aber hoffentlich ruhig einzuschlafen, wie man es jedem Menschen am Ende seines Lebens wünscht.